Mental Health

Das Leben mit dem Zwangsmonster, dessen Miete ich kündige

Kleine Vorstellungsgeschichte: Man stelle sich den Zwang als eine Art „Monster“ vor. Dieser Zwang war wohnungslos und suchte daher eine passende Bleibe. Eines Tages kam er bei mir vorbei und dachte: „oh, schön, da kann ich einziehen“ und da er ein wichtiges Gastgeschenk mitgebracht hatte, konnte er einziehen, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte. Nun wohnt er schon seit einiger Zeit als lästiger Mieter bei mir und hat es sich richtig gemütlich eingerichtet. Quelle: Fricke: Therapie-Tools Zwangsstörung. Beltz,2016

„Warum desinfizierst du denn ständig deine Hände?“ „Dein Immunsystem wird so im Arsch sein“ „Warum greifst du in Öffis nichts an?“

Weil ich einen Waschzwang und Angst vor Viren und Bakterien habe Sybille, deswegen. Also hör auf mir noch mehr Panik und Unsicherheit zu geben. Denn auch wenn ich das ständig gefragt werde, ich kann es oftmals nicht ändern. Denn wenn ich könnte, würde ich es. Nichts lieber als das.

Ausgelöst durch ein früheres traumatisches Erlebnis, hat Covid meinen Waschzwang getriggert. Die Pandemie war für ganz viele nicht leicht, aber an Menschen die dadurch psychische Krankheiten entwickelt oder diese getriggert haben, wird selten gedacht.

Ein Waschzwang geht selten allein einher, andere Angststörungen gehen meist Hand in Hand nebenbei. Mein Zwang wird begleitet von der Hypochondrie. Das ist eine ziemlich ungünstige Mischung kann ich sagen.

Die Angst vor Bakterien und Viren nennt man auch Mysophobie. Die Angst sich davon anzustecken und krank zu werden. In Berlin äußert sich dieser schlimmer als wenn ich in meiner Heimat bin. Auch eine Erkenntnis die ich in der Therapie gelernt habe. Vor wichtigen Meetings oder reisen wird es ebenso schlimmer. Meist so schlimm, dass meine Hand offen und teilweise Blutig wird. Ein Toilettengang an öffentlichen Orten kann meist bis zu 10 Minuten dauern da ich alles vorher desinfizieren muss.

Ein kleiner Auszug meiner Gedanken (in der Anfangsphase) um einen Einblick zu bekommen:

„Oh ich muss los, komme wieder zu spät zur Arbeit. Ich ziehe meine Schuhe an, bevor ich losgehe noch schnell Hände waschen, da ich meine Schuhe angefasst habe und die mit dem Boden von draußen in Kontakt kommen. Oh hab ich die Stange jetzt mit der linken Hand angegriffen? Ich fasse alles mit der rechten an nur damit eine Hand nicht kontaminiert ist. Gedanklich schwirrt in jedem Raum, in allem was man anfasst Bakterien und Viren die mich krank werden lassen können. Wenn ich aus der Bahn bin schnell Hände desinfizieren. Bevor ich meine Kopfhörer in mein Ohr stecke, schnell Hände desinfizieren. Bevor ich mir eine Kippe drehe schnell Hände desinfizieren. Ich hab mir ausversehen ins Gesicht gefasst, hab ich davor was angefasst? Ich darf mich jetzt nicht reinsteigern sonst droht eine Panikattacke. In der Arbeit angekommen esse ich etwas. Die Gabel lag auf dem Tisch, aber ich weiß nicht ob der Tisch davor gereinigt wurde. Ich nehme mir eine andere Gabel zur Sicherheit. Von meinem Salat fällt ein Stück auf dem Tisch, ich kann das nicht mehr essen weil evtl. schon Bakterien drauf sind. Zuhause angekommen werden Schuhe und Straßenklamotten abgelegt und das Zuhauseoutfit angezogen. Einzige Ausnahme mit Straßenklamotten auf der Couch zu chillen sind Gäst:innen. Handy und Kopfhörer desinfiziert und der Feierabend kann beginnen“

Mittlerweile bin ich 6 Monate in Therapie, und das Zwangsmonster ist auf dem besten Weg auszuziehen. Ich bin nicht mehr auf die Miete angewiesen. Es ist manchmal ein auf und ab (was vollkommen normal ist) und er kommt zu bestimmten Zeiten um mir immer wieder mal zu zeigen, dass er wichtig ist, aber ich weiß, dass er es nicht ist und kämpfe aktiv gegen ihn. Therapie hilft und ist so wichtig für diese Thematik. Wenn ich mir das Beispiel von meiner Anfangsphase anschaue, finde ich es beim lesen schon anstrengend. Ich bin so froh, und merke jetzt, was für eine unglaubliche Stärke ich in mir trage und ich schon so weit gekommen bin.

Therapeutische Maßnahmen:

Viel reflektieren, viele Übungen machen, um herauszufinden warum der Zwang bei einem wohnt. Dazu wird gemeinsam besprochen was der Zwang eigentlich ist und über die Entstehung gesprochen. Auslösebedingungen so wie Merkmale der Persönlichkeit, Prägende Erfahrungen/Lebensereignisse, Genetische Anfälligkeit und Eltern so wie andere wichtige Bezugspersonen.

Im Alltag = Konfrontation: Etwas anfassen, nicht die Hände desinfizieren und die Panik aushalten bis sie abschwächt.

„Zu einem Menschen mit Waschzwang zu sagen, man solle sich doch die Hände nicht so oft waschen/desinfizieren ist, als ob man zu einem depressiven Menschen sagt er müsse doch nur öfter lachen weil das Leben ja so schön ist.

Oder damit den Vergleich auch wirklich alle verstehen: Es ist so als ob man jemanden der sich das Kreuzband gerissen hat sagt, er soll sich nicht so anstellen weil es eh nicht der Knochen war. Unlogisch? Ja that’s the point.“

T.K.P

Falls du auch unter einem Zwang leidest, lass dir gesagt sein, ich weiß wie anstrengend und schwierig es ist. Wie oft man in sich zusammenfällt, einen Heulkrampf bekommt und sich so sehr nach einem „normalen“ Leben sehnt. Aber du bist damit nicht allein.

Es gibt eine wirklich gute Chance den Zwang zu durchbrechen und ihn nicht überhand nehmen zu lassen. Such dir ein:e Therapeut:in und zeig dem Zwangsmonster den Mittelfinger.

  • Es sind Handlungen die ein Mensch der diese nicht durchführt, der an solchen Gedanken nicht leidet, nicht verstehen kann. Dennoch wünsche ich mir: Akzeptanz.
  • Ich wünsche mir, nicht angesehen zu werden, als wär ich bescheuert wenn ich mir die Hände desinfizier oder waschen gehe.
  • Ich wünsche mir, nicht ständig das Gefühl zu haben, beurteilt zu werden.
  • Ich wünschte, Menschen würden verstehen wie anstrengend das ist. Vor allem wenn man gerade aktiv dagegen ankämpft
  • Ich wünsche mir, dass sich Menschen ihre ungefragten Meinungen sparen. Denn die meisten Menschen mit einer Zwangserkrankung wissen, dass ihre Handlungen übertrieben sind. Wir brauchen nicht jeden Tag erinnert werden. Denn das tun wir uns ja selbst gedanklich 24/7, neben den Gedanken sich z.B die Hände waschen zu müssen.
  • Aber was ich mir am meisten wünsche ist, das Stigma und dieses „Tabu-Thema“ von psychischen Erkrankungen endlich zu durchbrechen.
  • Ich wünsche mir, offen über meine Probleme sprechen zu können, ohne dass ich auf meiner Stirn sofort den abwertenden „die is doch krank“ Stempel trage.
  • Ich wünsche mir, dass über psychische Probleme zu reden genau so normal wird wie über körperliche Probleme zu sprechen.

Eine Wunschvorstellung? Vielleicht. Aber lasst uns damit beginnen, damit es vielleicht für die nächsten Generationen einfacher wird. Damit sie sich nicht verstecken müssen und sich denken, sie seien „nicht normal“. Damit sie sich nicht schämen, wenn sie professionelle Hilfe annehmen. Und vor allem damit sie sich nicht schämen, betroffen zu sein.

„Und nein, du verstehst mich nicht, wenn du dir auch vor jedem Essen die Hände waschen musst.„

T.K.P

Drei wichtige Affirmationen:

Ich bin stark, so etwas durchzuhalten benötigt so unglaublich viel Kraft. 

Meine Zwangserkrankung ist NICHT peinlich

Ich werde es schaffen.

Wie meine Therapeutin immer so schön sagt: “ Sie sind oftmals jahrelang die selbe Straße gefahren. Jetzt gilt es diese Straße umzubauen. Und das benötigt Zeit und Geduld.“

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